FRÜHLINGSTEXTE, HERBSTTEXTE

Herbst 2017

Wenn das Wasser im Kanal grau und ruhig fließt. Kein Wind. Kein Regen. Wolken am Himmel über der Stadt. Vielleicht ein Stockentenpaar in der Wiese, das dicht beieinander steht. Wenn in der Straßenbahn das Licht angeht, obwohl der Nachmittag gerade erst angebrochen ist, und die Heizung den Sitz wärmt. Wenn dann ein Buch aufgeschlagen wird, ob das ein Anfang ist oder ein Ende? Und wenn ja, wovon?

 

Frühling 2018

Wenn die Köchin vor dem Lokal die Spargelkarte schreibt und nach Salat kurz aufblickt. Die Sonne im Gesicht. Ein lauer Windstoß voller Versprechen erfasst das Papier. Ein Schmetterling fliegt vom Asphalt auf. Ein Radfahrer tritt in die Pedale. Die Katze auf dem Kastanienbaum duckt sich und erkennt, dass der Ast zu dünn ist, auf dem der Spatz sitzt. Wenn dann ein Buch zu Boden fällt, ob das Absicht ist oder ein Versehen? Und wenn ja, von wem?

 

Herbst 2018

Wenn sie plötzlich seine Hand nimmt. Der Himmel fast schwarz, obwohl es noch gar nicht spät ist. Die Straßenlaternen schwanken leicht im Wind. Ein ganzes Jahr schon. Sie staunen. Dann lacht er und zieht sie in die nächste Seitenstraße. Zwei trockene Blätter umkreisen sich in einer Hofeinfahrt, bis ein Besenstrich ihren Tanz beendet. Wenn dann ein Buch verschenkt wird, ob das für immer ist oder nur für eine Nacht? Und wenn ja, wo?

 

Frühling 2019

Wenn die Amsel mit einem trockenen Zweig im Schnabel über die Wiese hüpft. Die ersten grünen Spitzen zwischen den Wurzeln eines Baumes. Der Straßenkehrer fegt die ausgewaschene Ankündigung für ein Theaterstück aus dem Rinnstein. Kommt ein Pferd in eine Bar. Ein Mädchen bleibt plötzlich stehen und weiß nicht weiter. Eine Kaugummiblase vor dem Mund. Wenn dann ein Buch vorgelesen wird, ob das zum Lachen ist oder zum Weinen. Und wenn ja, weshalb?

 

Herbst 2019

Wenn die Tage plötzlich merklich kürzer sind. Und das Blau des Himmels nicht mehr ist, wie es war. Der Kellner rollt im aufkommenden Abendwind die Hemdsärmel nach vorn. Eine Maus trippelt unbemerkt der Hauswand entlang. Ein Kind kickt eine Kastanie auf die Straße und trifft eine leere Flasche neben dem Altglascontainer. Wenn dann ein Buch aus dem Regal gezogen wird, ob das ein Zufall ist? Und wenn ja, wo führt er hin?

 

Frühling 2020

Wenn die Uhr eine Stunde überspringt, ohne sie zu zählen. Das Licht in der Auslage flackert. Die Leuchtschrift die Farbe wechselt. Eine Fledermaus fliegt ein gewagtes Manöver und überrascht einen Falter. Ein Nachtschwärmer bleibt stehen und zögert. Ein Blick zurück über die Schulter, aber die Straße ist leer. Der laue Wind fährt ihm ins Haar. Wenn dann ein Buch verschwindet, ob es hinter dem Spiegel wieder auftaucht? Und wenn ja, was steht darin?

 

Herbst 2020

Der süße Geruch von reifen Trauben steigt ihr in die Nase. Sie bleibt stehen. Mitten in der Stadt? Eine Schulklasse kommt die Straße hinunter und teil sich vor ihr wie das Wasser eines Bergbachs an einem Stein. Die Kinder hüpfen um sie herum. Ein Sonnenstrahl fällt zwischen den Ästen hindurch auf ihr Gesicht. Auf dem Asphalt werden die ersten trockenen Blätter zu Staub zerrieben. Sie nimmt den Bleistift und das Notizbuch zur Hand. Und jetzt? Gerade wusste sie es noch.

 

Frühling 2021

Einmal noch den Dynamo einschalten, obwohl die Tage wieder merklich länger sind. Vor dem Gasthaus an der Ecke hält er an und liest die vergilbte Speisekarte. In den Spinnweben hinter der Scheibe hat sich Staub verfangen.
Eine träge Fliege kriecht über das Fensterbrett und schüttelt den Winter ab. Die Stühle stehen auf den Tischen. Der Besen lehnt an der Theke. Zu Hause schlägt er das Kochbuch auf. Selber kochen, aber was? Indisch oder italienisch?

 

Herbst 2021

Den Sommer auskosten, das haben sie sich vorgenommen. Sie spazieren noch einmal Hand in Hand durch den Weinberg und schwitzen beim Aufstieg. Die Ungewissheit aushalten, das haben sie gelernt. Sie setzen sich in die Wiese über der Stadt. Mit dem Schuh eine grüne Nuss knacken, das feine Häutchen abziehen, den weißen Kern teilen. Wenn sich dann eine Wolke vor die Sonne schiebt, sitzenbleiben oder aufstehen? Und wenn ja, wofür?

 

Frühling 2022

Wenn schon wieder alles anders ist. Die blauen Stunden klirrend kalt. Schneeflocken tanzen durch die Luft. Woher nehmen wir die Gewissheit, dass es die letzten sind? Der Mann am Blumenstand wickelt gelbe Narzissen in Zeitungspapier mit Schlagzeilen von gestern. Im Supermarkt stapeln sich bunte Eier und süße Hasen. Wenn wir dann ein Buch zur Hand nehmen, können wir uns daran festhalten? Und wenn nicht, woran sonst?

 

Herbst 2022

Keine weitere Tropennacht, der letzte Hitzetag geht mit Blitz und Donner zu Ende. Am Morgen danach sind die Bäume am Kanal zerzaust. Vor einem Krähennest, aus der Krone einer Pappel auf den Radweg geschleudert, halten sie an und steigen ab. Vorsichtig legen sie das kunstvolle Flechtwerk in die feuchte Wiese. Die Jungvögel zum Glück längst ausgeflogen. Sie treten in die Pedale. Die frische Luft trocknet ihnen den Schweiß auf der Stirn. Die Schatten werden länger. Es ist ein gutes Stück geschafft, der Rand der Karte erreicht und der Weg so schön, dass sie das Ziel aus den Augen verlieren. Wenn sie jetzt einfach weiterfahren, wann kommen sie an? Und wo könnte das sein?

 

Frühling 2023

Richtig gute Geschichten haben keinen Anfang und kein Ende, egal wie kurz oder lang sie sind, sagt er, während er die Auslage betrachtet, ohne zu merken, dass sie schon weitergegangen ist. Bücher lehnen aneinander. Eines steht auf dem anderen. Über ihnen schweben bunte Vögel. Eine Postkarte erinnert ihn daran, dass seine Nichte bald Geburtstag hat. Gute Geschichten bleiben hängen und geben einem das Gefühl, dass sie immer schon da waren, sagt er. Geschichten sind geduldig, sie warten auf den richtigen Moment. Ob sie ihm überhaupt zuhört? Wo ist sie? Hallo?

 

Herbst 2023

Backstein reiht sich an Backstein. Die Jungfüchse im Hinterhof sind ausgewachsen und streiten um den besten Platz auf dem Blechdach. Im Park sammelt eine Frau, was die Eichhörnchen unter dem Hasel-strauch übrig lassen. Er steht mit den Füßen auf dem Nullmeridian, das Herz schlägt sechzehn Grad und zweiundzwanzig Minuten im Osten. Wie viele Seiten braucht es, um die Lücke zu füllen? Und wenn ein Satz gelingt, zählt er dann doppelt?

 

Frühling 2024

Der Marillenbaum in voller Blüte. Wenn jetzt bloß kein Frost mehr kommt. Hinter dem Haus liegt das Laub vom letzten Jahr. Dicke Regenwürmer gehen ihrer Arbeit nach. Die leichte Jacke ist schon zu warm. Erst gegen Abend, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schiebt, plötzlich ein kühler Hauch im Nacken, ein Frösteln. Wo geht der Geist hin, wenn die Flasche zerbricht? Und können wir uns darauf verlassen, dass Bücher alles einfangen, was uns umgibt? Oder ist da noch mehr?

 

Herbst 2024

Die Wespe hängt am Wasserhahn und wartet auf den erlösenden Tropfen. Die Wiese ist gelb. Das kleine Immergrün welkt. Der große Regen kommt über Nacht. Wir stehen am Kanal und staunen. Die Insel verhindert das Schlimmste. Dass es eines Tages zu viel ist, wenn alles immer mehr wird, hören wir von verschiedenen Seiten. Aber wollen wir uns mit weniger zufrieden geben? Und wenn ja, wie wissen wir, wann es genug ist?

Keine Antworten, aber gute Literatur.

 

© Texte Lorenz Langenegger